Prof. Dr. Martin Brown
April 2019
Seit 2014 haben vier Zentralbanken in Europa
ihre Leitzinsen unter die Nullgrenze gesenkt. Als Instrument der
unkonventionellen Geldpolitik sollen Negativzinsen die gesamtwirtschaftliche
Nachfrage ankurbeln oder den Wechselkurs stabilisieren und somit einer
Deflation entgegenwirken. Die Wirkung von Negativzinsen auf die Realwirtschaft
hängt entscheidend von der Reaktion von Geschäftsbanken ab. Wie Banken ihre
Finanzierungstruktur und ihre Kredittätigkeit anpassen, entscheidet auch
darüber, ob Negativzinsen die Finanzstabilität gefährden. Wissenschaftliche
Studien zeigen, dass die Einführung von Negativzinsen im Allgemeinen zu einer Beschleunigung
der Kredittätigkeit führt. Das Kredit- und Zinsrisiko im Bankensektor nimmt jedoch
ebenfalls zu.
Negativzinsen in Europa
Zentralbanken, wie die
Schweizerische Nationalbank (SNB), setzen die Leitplanken für Kreditbedingungen
in einer Wirtschaft, indem sie zwei Zinssätze festlegen: Den Zinssatz, zu dem sich
Banken bei der Zentralbank verschulden können, sowie den Zinssatz, welchen Banken
für Einlagen bei der Zentralbank erhalten. Der Geldmarktzins (z.B. der
sogenannte Libor), welcher als Referenzzinssatz für den Kreditmarkt dient,
bewegt sich innerhalb dieser Leitplanken. In normalen Zeiten liegen beide
Zinssätze oberhalb der «Nullgrenze» und der Geldmarktzins wird mit Offenmarktoperationen
(z.B. sogenannte Repos) der Zentralbank feingesteuert.

Grafik 1. Zinssätze auf Einlagen der Geschäftsbanken bei Zentralbanken in Europa
Quelle: Bech and Malkhozov (2016). DN=Danmarks Nationalbank, ECB=European Central Bank, SNB=Schweizerische Nationalbank, SR= Sveriges Riksbank
Im Juni 2014 hat die
Europäische Zentralbank (EZB) zum ersten Mal ihren Zinssatz auf Einlagen der
Geschäftsbanken (Deposit Facility Rate) unter die Nullgrenze gesenkt.[i]
Seit September 2014 liegt dieser Zinssatz bei -0.4%. Für die EZB ist der Negativzins
ein Instrument unkonventioneller Geldpolitik, das die Kredittätigkeit der
Banken ankurbeln soll, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu erhöhen.
Dadurch soll die Inflation bis zur Zielmarke von zwei Prozent ansteigen. Im Sog
der Negativzinspolitik der EZB haben die SNB wie auch die Zentralbanken von
Schweden und Dänemark ihre Zinsen ebenfalls unter Null gesetzt (siehe Grafik
1). Diese Reaktionen dienen primär der Stabilisierung der Wechselkurse zum Euro
und damit der Verhinderung deflationärer Tendenzen.
Kreditvergabe und Risikobereitschaft der Banken
Aggregierte Daten
zeigen eine Beschleunigung der Kredittätigkeit in der Eurozone seit Mitte 2014
(siehe Grafik 2). Allerdings lässt sich aus diesen Daten nur schwer ableiten,
inwiefern die Negativzinspolitik zu dieser Entwicklung beigetragen hat. Im gleichen
Zeitraum hat die EZB mit einer Reihe von weiteren unkonventionellen
Politikmassnahmen (Asset Purchase Programs, Long-term Refinancing Operations) die
Liquidität im Bankensektor, sowie in den Finanzmärkten, massiv erhöht.[ii]
Grafik 2. Kreditwachstum in der Eurozone (in %), 2012–2018
Quelle: Euro Area Statistics.
Führen Negativzinsen tatsächlich zu einer erhöhten Kredittätigkeit der Banken? Gehen die Banken bei der Vergabe von Krediten höhere Risiken ein? Wie beeinflussen Negativzinsen darüber hinaus das Asset und Liability Management und somit das Zinsrisiko im Bankensektor? Mit diesen Fragen beschäftigen sich mehrere neue wissenschaftliche Studien (siehe Referenzen). Sie versuchen die Wirkung der Negativzinsen von der Wirkung anderer Politikmassnahmen zu trennen, indem sie Banken vergleichen, die von der Einführung der Negativzinsen unterschiedlich betroffen waren.
Negativzinsen können die Kreditvergabe abschwächen und das Kreditrisiko erhöhen!
Zu diesem überraschenden Ergebnis kommen Ökonomen der EZB in einer weitbeachteten neuen Studie (Heider et al. 2019). Die Autoren untersuchen die Vergabe von syndizierten Krediten von grösseren Banken in der Eurozone. Sie vergleichen dabei Banken, die sich vorwiegend mit Kundeneinlagen finanzieren, mit Banken, die sich vorwiegend am Markt refinanzieren. Die Hypothese ist einfach: Banken scheuen sich davor, die Negativzinsen auf die Spareinlagen von (Retail-)Kunden umzulegen. Die Einführung von Negativzinsen trifft deshalb Banken umso stärker, je mehr sich diese mit Kundeneinlagen finanzieren. Die Autoren zeigen, dass während die Kreditvergabe aller Banken nach 2014 zunimmt, diese Zunahme bei Banken viel schwächer ausfällt, die sich vorwiegend mit Einlagen finanzieren. Banken, die sich vorwiegend mit Kundeneinlagen finanzieren, erhöhen im Vergleich auch den Anteil an risikoreichen Krediten, d.h. Krediten an Unternehmen, die eine hohe Volatilität der Profite aufweisen.
Welchen Mechanismus vermuten die Autoren hinter diesen Ergebnissen? Wenn das Zinsniveau in normalen Zeiten sinkt, profitieren Banken aufgrund ihrer Fristentransformation von einer höheren Profitabilität und Bewertung der Eigenmittel. Wenn jedoch das allgemeine Zinsniveau unter die Nullgrenze fällt, bleibt die Nullgrenze für einen grossen Teil der Bankverpflichtungen – nämlich für die Kundeneinlagen – bindend. In dieser Situation führt die Zinssenkung auf Aktiva (Kredite) zu einer tieferen Profitabilität sowie Bewertung der Eigenmittel. Dies schränkt die Kreditvergabe ein und kann zu risikoreicherem Verhalten führen.[iii]
Im Allgemeinen führen Negativzinsen aber zu einer Beschleunigung der Kreditvergabe
Zu diesem Ergebnis kommen die Untersuchungen für die Schweiz. Auf ihrer jüngsten Forschungskonferenz haben Ökonomen der SNB eine Analyse der Firmenkredite Schweizer Banken für den Zeitraum 2014–2015 präsentiert. In dieser Studie (Schelling und Towbin, 2018) werden anhand von Daten zu über 100'000 Einzelkrediten[iv] das Kreditvolumen und die Kreditkosten vor und nach der Einführung der Negativzinsen im Januar 2015 verglichen. Ähnlich wie Heider et al. (2019) vergleichen die Forscher hierbei die Reaktion von Banken, die sich stärker bzw. schwächer mit Kundeneinlagen refinanzieren. Die Studie bestätigt eine häufig geäusserte Einschätzung der Entwicklung des Kreditmarktes in der Schweiz: Die Kreditzinsen sind nach Einführung der Negativzinsen im Durchschnitt weniger gefallen als der Leitzins (Libor), sodass sich die Zinsmarge der Banken erhöht hat.[v] Allerdings zeigen die Autoren, dass sich die Zinsmarge bei den Banken weniger erhöht, die sich vorwiegend mit Kundeneinlagen finanzieren. Diese Banken weisen auch eine deutlich stärkere Ausweitung ihres Kreditvolumens auf. Die Autoren interpretieren ihre Ergebnisse wie folgt: Banken, die aufgrund der Negativzinsen und der bindenden Nullgrenze bei Kundeneinlagen sinkende Profite befürchten, versuchen mit einer Expansion ihrer Kredittätigkeit Marktanteile zu gewinnen.
Aber Negativzinsen erhöhen das Risiko im Bankensektor!
Weitere Studien zur Eurozone bestätigen, dass die Einführung der Negativzinspolitik im Allgemeinen zu einer Ausweitung der Kredittätigkeit führt.[vi] Bemerkenswert ist hierbei eine soeben vorgestellte Studie zur Reaktion italienischer Banken nach Juni 2014 (Bottero et al. 2019). Diese Untersuchung belegt, dass insbesondere Klein- und Mittelunternehmen von der Beschleunigung der Kreditvergabe profitieren. Während diese Wirkung aus realwirtschaftlicher Perspektive erwünscht sein mag, geht sie mit einer Zunahme des Kreditrisikos im Bankensektor einher. Die Autoren zeigen nämlich weiter, dass vor allem Unternehmen mit schwachen bankinternen Ratings von der zusätzlichen Kreditvergabe profitieren.
Die umfassendste Studie zur Wirkung der Negativzinsen auf Banken stammt von Basten und Mariathasan (2018). Die Autoren untersuchen die Reaktion von 50 Schweizer Banken auf die Einführung von Negativzinsen im Januar 2015. Die Autoren analysieren hierbei nicht nur die Kreditvergabe, sondern auch die gesamte Anlage- und Finanzierungsstruktur der Banken. In der Schweiz müssen Banken nur auf die Einlagen bei der SNB Negativzinsen bezahlen, die ihre Minimalreserven um das 20-fache überschreiten.[vii] Um die direkte Wirkung der Negativzinsen zu untersuchen, vergleichen die Autoren deshalb die Banken, die diese Quote überschreiten, mit den Banken, die sie unterschreiten. Die Ergebnisse bestätigen, dass Banken, die besonders von den Negativzinsen betroffen sind, ihre Hypothekarkredite mehr ausweiten als andere Banken. Dieser Effekt ist auch ökonomisch relevant: Vergleicht man die Bank, die ihre Quote am meisten überschreitet, mit der Bank, die ihre Quote am meisten unterschreitet, so steigt das Volumen der Hypothekarkredite der ersten Bank nach der Einführung der Negativzinsen um 3.5 Prozentpunkte mehr an (im Vergleich zur Bilanzsumme). Die Studie zeigt weiter, dass die Banken, die von den Negativzinsen am meisten betroffen sind, den Anteil an Finanzanlagen in ihrem Portfolio erhöhen – zulasten der Zentralbankeinlagen. Gleichzeitig mindern diese Banken ihre Kapitalmarktfinanzierung (mit Pfandbriefen). Die Erhöhung der (Hypothekar-) Kreditvergabe und die gleichzeitige Reduzierung der Kapitalmarktfinanzierung führt zu einer Zunahme der Fristentransformation. Negativzinsen können folglich nicht nur zu einer Erhöhung des Kreditrisikos im Bankensektor führen, sondern auch zu einer Zunahme des Zinsrisikos.
Gut für die Realwirtschaft, aber gefährlich für die Finanzstabilität
Wirkt die Einführung von Negativzinsen anders auf Geschäftsbanken als «normale» Zinssenkungen? Mit Blick auf die Kreditvergabe und die damit erhofften Impulse für die Realwirtschaft scheint die Wirkung der expansiven Geldpolitik auch unter der Nullgrenze zu funktionieren. Allerdings zeigen die wissenschaftlichen Studien, dass der Mechanismus, welcher die Kredittätigkeit ankurbelt, bei Negativzinsen ein anderer ist als bei gewöhnlichen Zinssenkungen. Eine Zinssenkung oberhalb der Nullgrenze weitet das Kreditangebot aus, weil die Eigenmittel der Bank sowie die Vermögenswerte (e.g. Immobilien) der Kunden stärker bewertet werden. Die Einführung von Negativzinsen wirkt hingegen über einen verstärkten Druck auf die Profite der Banken, welche sie veranlasst das Kreditangebot auszuweiten um ihren Umsatz zu erhöhen.
Mit Blick auf die Finanzstabilität zeigen die vorhandenen Studien, dass Negativzinsen sowohl zu einer Erhöhung des Kreditrisikos, als auch zu einer Zunahme des Zinsrisikos im Bankensektor führen. So scheint die Geldpolitik unter der Nullgrenze mit einem ähnlichen Trade-Off behaftet wie zu Normalzeiten: Realwirtschaftliche Impulse setzen eine Expansion der Kreditvergabe der Geschäftsbanken voraus. Eine Ausweitung der Kredittätigkeit geht aber in der Regel mit erhöhten Risiken im Finanzsektor einher.
Referenzen:
- Basten, C., Mariathasan, M. (2018). How Banks Respond to Negative Interest Rates: Evidence from the Swiss Exemption Threshold. CESifo Working Paper 6901, CESifo, Munich.
- Bech, M., Malkhozov, A. (2016). How have central banks implemented negative policy rates? BIS Quarterly Review.
- Bottero M., Minoiu, C., Pedro, J.-L., Polo, A., Presbitero, A.F., Sette, E., (2019). Negative Monetary Policy Rates and Portfolio Rebalancing: Evidence from Credit Register Data. IMF Working Paper.
- Demiralp, S., Eisenschmidt, J., Vlassopoulos, T. (2017). Negative interest rates, excess liquidity and bank business models: Banks’ reaction to unconventional monetary policy in the euro area. Working Paper.
- Eisenschmidt, J., Smets, F. (2017). Negative interest rates: Lessons from the euro area. Unpublished Working Paper.
- Heider, F., Saidi, F., Schepens, G. (2019). Life Below Zero: Bank Lending Under Negative Policy Rates. Review of Financial Studies, Forthcoming.
- Nucera, F., Lucas, A., Schaumburg, J., Schwaab, B. (2017). Do negative interest rates make banks less safe? Economic Letters, 159, 112–115.
- Schelling, T., Towbin, P. (2018). Negative interest rates, deposit funding and bank lending. Unpublished Working Paper.